– Anmerkungen zu einer nicht nur evangelikalen Ansicht –
Ich habe schon zuvor in etwas anderem Zusammenhang darauf hingewiesen, aber scheinbar ist das untergegangen. Wenn es eine moderne Religion gibt, in der Homosexualität die allerbesten Chancen auf Emanzipation hat, dann ist diese das Christentum. Das Judentum verdammt sie per Gesetz, der Islam per Tradition. Das Christentum nimmt, wie alle antiken Religionen, dazu nicht Stellung, denn es will nicht Gesetz für dies und das sein, sondern befasst sich mit dem Menschen als solchem und seinem Verhältnis zu seinem Gott.
Gehen wir aber zu seinen ersten Anfängen zurück, zurück in die Zeit als das Christentum anfängt, sich einen Glaubensbestand und eine Sittenlehre zu erarbeiten, finden wir ein Bild, das auch gut und gern einem Roman entsprungen sein könnte, nur dass es sich hier um einen Griff ins pralle antike Leben handelt. Da ist ein junger Jude aus Tarsus nach Jerusalem gekommen um an der dortigen „theologischen Hochschule“ seine Studien zu vollenden. Der junge Mann heißt Saulus. Und wie es so kommt, irgendwann dort stellt er fest, dass es ihn zum eigenen Geschlecht hinzieht – er ist Jude und damit ist dies für ihn ein todeswürdiges Verbrechen für das sein Gesetz keine Nachsicht kennt. Später spricht er schamhaft selbst davon als von dem „Satan, der ihn mit Fäusten schlägt“. Sicher ist, dass er niemals heiratet, aber ein Frauenfeind scheint er dennoch nicht zu sein. Sie sind ihm fremd, er folgt im Urteil über sie lediglich der jüdischen Ansicht. In seinem inneren Zwiespalt will er zunächst die vermeintliche Todsünde mit umso größerem Eifer für Jahwe kompensieren und das bringt ihn mit der Gemeinde des Simon Petrus zusammen, die er erst verfolgt, bei der er aber dann tolerante Aufnahme findet. Entsprechend widmet er sein Leben fortan der Ausbreitung dieser Lehre, die er dann auch mitgestaltet – unbemerkt erst, aber im zweiten Jahrhundert unserer Zeitrechnung ändert sich das, indem er von einem reichen christlichen Religionsreformer namens Marcion entdeckt und in den Vordergrund gestellt wird. Das Christentum wird in der Folge nach seinen Vorstellungen gestaltet und vereinheitlicht werden. Die Evangelien, das ist heute erwiesen, folgen erst nach seinem Tod. Er ist auch wahrscheinlich dem Simon niemals mehr selbst begegnet, es ist die zweite Generation und die dritte, in der er sich bewegt, eine Generation, die den Kreuzestod schon kennt, aber noch nichts Genaues darüber weiß; die erste Generation um Simon kannte ihn nicht, die vierte kennt ihn in allen Einzelheiten.
Unser heutiges Christentum ist also ein Geschöpf mit zwei Köpfen: einen bilden die Evangelien, einen anderen bildet das Corpus Paulinum mit seinen ethischen, dogmatischen und so weiter Maßgaben. Die beiden widersprechen sich zwar nicht geradezu, aber man darf niemals vergessen, dass das CP nicht auf der Grundlage der kanonischen Evangelien verfasst ist, sondern wenn, dann Quellen nutzt, die heute entweder verloren oder nur als Apokryphen mehr oder weniger zufällig erhalten sind. Vieles, besonders alttestamentliche Zitate bringt er aus dem Kopf, also nicht unbedingt immer korrekt und sowieso nicht nach der hebräischen Redaktion von Jamnia, die er noch nicht kennen kann, da sie noch nicht existiert, sondern er zitiert nach der griechischen LXX, die auch seinen „Heidenchristen“ zugänglich ist und möglicherweise noch nach anderen Schriften. Aber das soll uns jetzt im Einzelnen weniger beschäftigen.
Unter den „Briefen des Paulus“ als welche die Theologie des Saulus bezeichnet wird, finden sich auch zwei nachträglich redigierte Briefe an eine christliche Gemeinde in Korinth. In ihnen finden wir, was wir ansonsten in diesen Briefen erst mühsam zusammen suchen müssen, nämlich ethische und moralische Maximen, Regeln für den Gottesdienst und für das anschließende gesellige Miteinander. Wir finden auch Regeln dafür, wer zur Gemeinde gehören soll und wer nicht und jetzt wird es interessant, denn Saulus erweist sich hier als kundiger Vermittler zwischen jüdischer und antiker Lebensweise. Frauen sollen , so seine Regel für den Gottesdienst, einen Schleier tragen, sofern sie daran teilnehmen wollen (keine anständige freie griechische Frau verließ jemals das Haus ohne Matronenschleier, aber offensichtlich will Saulus hier, dass die Regel auch für Sklavinnen gelte, denn vor Gott gibt es keine Sklaven) und am besten ist es, wenn sie in Gemeindeangelegenheiten überhaupt den Mund hält. Es war parallel auch in anderen öffentlichen Angelegenheiten so, dass Frauen weder ein Stimm-, noch ein Rederecht hatten. Im Gottesdienst darf sie, wenn sie das Schleiergebot beachtet, aber mitbeten, mitsingen und sogar predigen und prophezeien, denn im Gottesdienst (also vor Gott) gilt ein jeder einem jeden gleich. So klärt sich der oft zitierte und beklagte Widerspruch zwischen dem Freiheitsgebot des Galaterbriefes und den Einschränkungen im ersten Korintherbrief auf. Es geht einerseits um die Freiheit des Christenmenschen und andererseits um die Beachtung der öffentlichen Sitten. Ich revidiere hiermit meine frühere Ansicht, dass es sich vom Galaterbrief zum ersten Korinther um eine Weiterentwicklung handeln solle – vielmehr betrachtet Saulus die Rolle der Frau in den beiden Briefen lediglich unter verschiedenen Aspekten. Damit ist für beide der Anspruch der Authentizität, den ihnen die moderne neutestamentliche Forschung zugesteht, gegeben.
Aber was hat das mit Homosexualität zu tun? Erst einmal nichts – aber besagter erster Korintherbrief ist auch die Kernstelle der evangelikalen Ablehnung der Homosexualität als solcher, nur – hier handelt es sich offensichtlich um einen verhängnisvollen Irrtum, der durch Jahrtausende Christentum immer wieder Leid über Menschen gebracht hat. Denn nicht etwa homosexuelle Menschen, Männer wie Frauen, schließt Saulus aus der Gemeinde aus, sondern Prostituierte beiderlei Geschlechts. Die Ausschließung ist vorläufig zu sehen – denn wenn sie ihren Lebenswandel aufgeben, sollen sie in der Gemeinde willkommen sein. Dasselbe gilt von allen anderen Verfehlungen und anrüchigen Handlungen. Da steht nicht „Homosexuelle“, sonder da steht „Lustknaben“, heute nennt man diese Sparte des Amüsierbetriebes Stricher. Denn dass man von Homosexualität nicht „lassen“ kann, weiß Saulus gut genug und verlangt es daher auch nicht. Außerdem gehört sie in der antiken Welt und erst recht in einer antiken Großstadt zum erotischen Alltag. Saulus unterliegt hier, wie in vielen anderen Fällen, nicht mehr dem jüdischen Zeremonialgesetz, das er ganz und gar den Juden überlässt – der Christ ist hier einmal mehr vom Gesetz des Jahwe frei. Aber unsere evangelikalen Christen und mit ihnen die Mehrzahl der christlichen Sekten halten sich Augen und Ohren zu, wollen nicht hören und wollen nicht sehen und machen Aufstand, wenn jemand wie die Christen in Württemberg, zu hören und zu sehen versucht. Wer die Stelle nachlesen will, es handelt sich im ersten Korintherbrief um Kapitel 6 die Verse 9 – 11. Dort ist von Lustknaben und Knabenschändern die Rede, also sowohl von denen, die ihren Körper käuflich anbieten als auch von denen, die dieses Angebot nutzen. Von freier Liebe zwischen Menschen gleichen Geschlechts hingegen finden wir hier kein Wort. Und auch an anderer Stelle finden wir keines – warum auch sollten wir?
Wenn man die Aufregung. die in manchen Gemeinden herrscht, einmal unter diesem Aspekt betrachtet, fällt sie in sich zusammen und macht dem Platz, was man christliche Freiheit nennt. Aber warum hat man diese Verse zweitausend Jahre lang nicht so gelesen wie sie geschrieben worden sind? Nun – darüber muss man nicht mich, sondern die Geschichte der christlichen Exegese befragen. – Berlin im Juli 2014 © Juliane Bobrowski