Es ist eine alte Kontroverse: soll man Gnosis und Mystik zusammen sehen oder soll man zwischen ihnen wohlweislich unterscheiden? Beide suchen nach einer inneren Wahrheit, durch welche sich die äußere erschließt. Dennoch, behaupte ich, gibt es signifikante Unterschiede zwischen ihnen auch dort, wo sie anscheinend ein gemeinsames Ziel haben.
Es ist ein gern gehegtes Vorurteil, anzunehmen, dass Mystiker Gott suchen. Bis zu einem gewissen Grad hat dieses Vorurteil allerdings seine Berechtigung. Die in Religionskonzepte eingebundenen Mystiker suchen in der Tat zumeist Wege zu ihrem jeweiligen Gott, die in den entsprechenden Traditionen ihrer Religionen nicht vorgesehen sind. Aber sie suchen eben Wege zu einem Gott. Eine Stufe weiter versuchen Mystiker, mit diesem „Göttlichen“ eins zu werden. Dabei betrachten sie dieses aber nach wie vor als etwas, das eigentlich unabhängig von ihrem eigenen Dasein existiert und ihr Dasein gewissermaßen im Nachgang in sich aufnimmt. Sie gehören zu ihrem jeweiligen Gott, der aber deshalb nichts an Eigenexistenz einbüßt.
Anders in der Gnosis. Sie sucht kompromisslos das wahre Selbst des Suchenden und sie lässt sich dabei von keiner wie auch immer gearteten „höheren“ Existenz beeinflussen. Sie bezweifelt gar die Höherwertigkeit solcher Existenzen, obgleich sie die pure Existenz derselben nicht in Zweifel zieht. Es gibt Wesenheiten, denen keine irdische oder sonst kosmische Erscheinung innerhalb des Universums entspricht, aber diese haben dem Suchenden nicht nur nichts voraus, sie haben sogar ihm gegenüber einen empfindlichen Nachteil: sie sind nicht in gleicher Weise wie er in sich geordnet, sehen über ihren gegebenen Horizont meist nicht hinaus und können ihre eigene Situation im Geflecht des Ganzen zumeist nicht erfassen, schon gar nicht ist es ihnen gegeben, das „Ganze“ als etwas Provisorisches, in Wahrheit stets Offenes und Unvollendetes zu begreifen. Sie kommen also als Objekte der Orientierung in Wegfall. Sie sind vorhanden, aber das ist auch schon alles, was sie, samt ihrer Lebensgeschichte, sind. So betrachtet kann es natürlich auch kein Wesen geben, das auch nur annähernd die Anforderungen erfüllt, die zum Beispiel der Monotheist an seinen Gott stellt. In dieser Beziehung ist der Gnostiker also schon einmal frei. Es gibt nichts, womit er sich „vereinigen“ müsste, sollte, wollte und auch noch könnte. Er ist unter allen Wesen nur ein weiteres Selbst, das seine wahre Natur sucht und auf dem Weg der Selbsterkenntnis findet. Alles weitere findet sich, sobald er diese gefunden hat. Der Gedanke einer „Vereinigung mit dem Göttlichen“ kommt ihm gar nicht erst, denn das „Göttliche“ stellt für ihn keine Kategorie des Seins dar. Er ist auch nicht der Ansicht, dass ihm etwas abgehe, vielmehr will er wissen, was das ist, was ihn erfüllt und ausfüllt. Das erfährt er im Verlauf seiner Existenz, sofern er sich darum bemüht. Von selbst und automatisch erfährt er es nicht, das ist einer der Grundirrtümer der Esoterik, die eben dies behauptet. Deshalb ist er Mensch geworden, damit er dies Entscheidende tun kann, denn als reine Wesenheit wäre es ihm unmöglich. Nur indem er sich in seiner Seinsweise von der geistigen Existenz unterscheidet, kann er dieselbe erfassen und mit ihr arbeiten. Wer ein Beispiel braucht: eine Zahl kann sich nicht selbst errechnen, sie braucht einen, der die dazu nötigen Manipulationen durchführt. Das wäre in diesem Falle der Mensch oder irgendeine biologische Konstruktion gleicher Qualität als Mindestvoraussetzung. Ein „Gott“ kann ihm dazu nicht helfen, ein „Göttliches“ auch nicht.
Der Mystiker, um noch einmal auf ihn zurück zu kommen, sieht auch eines seiner Ziele darin, in dem von ihm angenommenen Göttlichen als Mensch aufzugehen. Der Gnostiker legt allen Wert darauf, auch als „Gott“ er selbst zu bleiben. Er geht nicht in etwas auf, sondern dadurch, dass er seine wahre Natur findet, bringt er sozusagen eine neue Strophe zu einem alten Lied hinzu, die da vordem noch nie gesungen wurde. Er hat eine neue Stufe des Lebens erreicht, warum sollte er die wieder aufgeben? Irgendwann wird auch sie sich zu einer nächsten und übernächste formen, aber das wird sein, wenn es sein kann und bis dahin gilt, was ist. Daraus folgt nebenher, dass Gnosis gar nicht pessimistisch sein kann, wie es die Mystik mit ihrer Weltverachtung oft ist. Er ist Mensch und als Mensch schon zugleich das, was nach dem Menschen kommen wird, also warum sollte er die Haut verachten oder gar unter ihr leiden, die doch ein solches Dasein, wie er es nun führt, mitmacht und erträgt? Dem Gnostiker wird die Welt nicht zu eng, weil er von ihr nie mehr erwartet als dass sie ihn und alle seinesgleichen trage. Der subtile Selbsthass des Mystikers ist ihm fremd, er bezieht ja sein eigenes Leben niemals auf eine Instanz, die seine eigenen Möglichkeiten begrenzt und womöglich beschädigt, während der Selbsthass des Mystikers überhaupt das ist, was ihn erst in die Mystik treibt. Der Mystiker, um es auf den Punkt zu bringen, sucht, seine Existenz durch Aufgehen im Göttlichen zu erhöhen. Dem Gnostiker ist sie selbst wie auch immer auf jeden Fall „hoch“ genug, er will nur wissen, was sie, jenseits des Menschlichen, sei. Selbstzweifel und Nichtigkeitsgefühle, wie sie den Mystiker in die Mystik treiben, plagen ihn nicht, sein Interesse ist ganz und gar positiver Natur; wo es das nicht ist, ist auch die Gnosis keine Gnosis und wenn er sie dreimal so bezeichnen möchte. Daher hat man den Gnostikern aller Zeiten ihre innere Selbstsicherheit auch stets zum Vorwurf gemacht und als „Zeichen Satans“ gebrandmarkt, weil eben diese positive Einstellung zu sich selbst dem christlichen Menschenbild des armen Erbsünders zutiefst und mit aller Entschiedenheit widerspricht. Dazu jagt das völlige Fehlen jeglicher Demut vor dem Höheren auch noch heute jedem Esoteriker Schauer über den Rücken, er mag denken, dass es dem da wohl vor gar nichts graust und er hat Recht mit dieser Vermutung: den Gnostiker graust es in Wahrheit vor nichts, nicht einmal vor den Abgründen die seine anfängliche Unwissenheit in ihm selber angerichtet haben mag. Er braucht auch, anders als der Mystiker und erst recht anders als der Gläubige, niemanden, der ihm die vergibt, nicht einmal sich selbst, denn: geschehen ist geschehen und mehr als es künftig besser zu machen kann niemand.
Der Mystiker hingegen begreift sich als Sünder, bis das Aufgehen im Göttlichen ihm seine Sünden vergibt. Nun ist er gerechtfertigt und in Gnaden angenommen, aber er trägt diesen Schatz, wie Paulus sagt, in tönernen Gefäßen, er kann alles Erreichte wieder verlieren – der Gnostiker hingegen verliert nichts mehr, denn er hat nie nach etwas gesucht, das nicht in ihm selbst gelegen wäre. Es kann ihm auch niemand etwas wegnehmen von dem, was in selbst ausmacht… allerdings begreift er auch, dass er selbst niemandem etwas wegnehmen, niemandem aber auch etwas schenken, niemanden gegen seinen Willen selbst zum Glücklichsein bewegen kann. Diese Einsicht ist mitunter, wenn es um liebe Zeitgenossen geht, frustrierend und sie verlangt viel Standhaftigkeit von ihm, wie ich sie selbst, der ich vielen guten Menschen habe helfen wollen, lernen musste. Der Mystiker will, dass auch andere seinen Weg gehen – der Gnostiker kann nicht verlangen, dass auch nur einer seinen Weg geht und so sind Mission und Gnosis zwei Dinge, die sich a priori nicht vertragen. Es ist zwar möglich, dass jemand aus den Fehlern und den Erfolgen eines Anderen für sich selbst lernt – aber es ist nicht möglich, dass er den Weg des Anderen kopiert. So geschieht alles Lernen immer unter dem Vorbehalt der Brauchbarkeit, denn niemand kann ein Anderer werden als er ist, und wenn er den Lehrer noch so bewundert. Vielleicht bewundert im gleichen Moment der Lehrer auch ihn wegen seines Mutes zur Eigenständigkeit. Der Mystiker aber will, dass sich der Schüler seinem Willen ganz und gar ergibt und das eigene Selbst mehr und mehr hintan stellt. Wie wir sehen, sind die Unterschiede wirklich nicht zu übersehen. Während, um wieder ein Gleichnis zu nutzen, der Mystiker seinen Schüler lehrt, dass nur diese und keine anderen Schrauben zu benutzen sind, bringt der Gnostiker seinem Schüler bei, wie man ganz generell Schrauben in Bretter hinein und aus denselben hinaus befördert. Ich denke, auch dieser Unterschied sollte als ein solcher wahrzunehmen sein, obgleich Manche in diesem Erlernen einer allgemeinen Fertigkeit bereits eine tiefgreifende Bevormundung sehen wollten und wollen. Aber dazu sind Menschen das, was sie sind, damit sie in der Lage sind, Erfahrenes als Wert an diejenigen weiter zu geben, denen solche Erfahrungen als Vergleichswerte nützen können. Nur ist das Muster äffischen Nachahmens anscheinend noch zu tief in der Spezies verankert und eigenständige Verarbeitung fremder Information anscheinend noch zu unbekannt, sodass ein Mystiker die vorhandenen Verhaltensmuster bedienen kann, ein Gnostiker aber darauf angewiesen ist, offene Herzen für neue Verhaltensweisen zu finden. Hoffen wir, dass deren Zahl künftig zunimmt und hüten wir uns derweil davor, Mystikern in die Hände zu fallen….
27.05.2014