So reich die europäische Erde an Hinterlassenschaften der Stämme ist, die wir mit dem Sammelbegriff Kelten bezeichnen, so arm sind die europäischen Bibliotheken an originalen Quellen, denn die keltische Kultur war schriftlos. Dass eine schriftlose Kultur aber auch eine niedere sein müsste, ist durch die Kultur der Quechua in Südamerika widerlegt. Der menschliche Verstand kann, wenn er die Entlastung durch die Schrift nicht kennt, ungeheure Mengen an Informationen nicht nur speichern, sondern auch gebrauchsfähig bereit halten. Aber was die keltische Kultur an Wissen bereit hielt, davon wissen wir kaum etwas. Es ist nicht so, dass wir gar nichts wüssten – wir kennen immerhin einen keltischen Kalender und wir kennen aus britannischen Quellen des Mittelalters noch manches keltische Epos. Wir kennen zudem eine Reihe von Informationen, die von Römern und Griechen stammen – inwiefern diese aber authentisch sind, wissen wir nicht, denn die Kelten galten eine Zeitlang als gefährliche Feinde des römischen Reiches und wurden von diesem Aspekt her beurteilt.
Wie die Kelten lebten, wissen wir aber dank all der Artefakte recht genau. Sie lebten in Holzhäusern, bauten den Acker, trieben Viehzucht, kannten Töpferei und Weberei, kannten auch den Bergbau und die Metallverarbeitung. Sie lebten in Dörfern aber auch schon in kleineren städtischen Niederlassungen und bildeten eine recht differenzierte Gesellschaft aus Gelehrten, Adeligen, Kaufleuten, Handwerkern, Bauern und – nicht zu vergessen – auch Leibeigenen. Adelige, Kaufleute, Handwerker und Bauern bildeten bei Bedarf die Kriegerschar. Ein stehendes Heer besaßen die Kelten nicht. Wir wissen, dass sie eine Reihe von Festen feierten die im Zusammenhang mit dem Wechsel der Jahreszeiten standen, und dass sie die Kalenderberechnung kannten. Wir wissen, dass sie Götter kannten und verehrten, wir kennen auch die Namen mancher Götter, es sollen aber viel mehr gewesen sein als wir heute kennen. Ihre Ressorts kennen wir allerdings nur sehr auszugsweise, und von ihren Ritualen kennen wir nur Umrisse – und die sind nicht sympathisch, denn sie brachten grausame Menschenopfer dar. Der Gundestrup – Kessel, eine keltische Arbeit, die als Opfergabe in einem dänischen Moor gefunden wurde, schildert wahrscheinlich ein keltisches Opferfest zu Ehren des Hirschgottes Cernunnos. Aus den britannischen Manuskripten des Mittelalters wissen wir Bruchstücke ihrer Weltsicht – sie dachten sich die vorfindliche Welt der Menschen überzogen von der – unsichtbaren – Welt der Götter und Geister, die sie sich nicht als Paradies vorstellten, sondern als eine Welt wie ihre eigene, nur in einer anderen Form von Wirklichkeit. Der Gedanke erscheint uns vertraut, aber der Umgang der Kelten mit dieser „Anderswelt“ war wohl ein sehr anderer, denn sie war den Kelten, soviel verraten die Manuskripte, nicht etwa vertraut, sondern höchst unheimlich. Ihre verstreuten Erzählungen aus der Anderswelt sind mit Zeitverzerrungen gespickt – in ihnen gelten andere Bedingungen als in der irdischen Sphäre.
Verwalter ihres Wissens waren die Druiden. Wir erfahren, dass sie lange studieren mussten, aber wir erfahren auch, dass sie nicht direkte Priester waren, auch wenn sie priesterliche Dienste verrichten konnten. Sie hüteten das gesamte sakrale und profane Wissen der keltischen Stämme und Sippen, darunter auch das gesamte Zauberwesen – den unmittelbaren Opferdienst und das weitgefächerte Orakelwesen versahen die Vaten, Bewahrer der geschichtlichen Ereignisse waren die Sänger, die Barden, die ihre Epen und Lieder an den Herdfeuern und auf den Dorfangern vortrugen, dem Volk zur Erinnerung und zum Gedächtnis – neue wie alte Begebenheiten trugen sie von einer Siedlung zur andern. Unmittelbar unter ihnen standen die weltlichen Führer, die zwar nicht auf ihre Anweisung hin handelten, aber wohl ihren Rat einholten und ihre Fürbitte in Anspruch nahmen. Unter diesen standen die freien Bauern und Handwerker, die bei Bedarf einem gewählten Führer Heeresfolge leisteten. In allen Ständen waren, soviel wir wissen, Männer und Frauen gleicherweise berechtigt – wir hören von Kriegerinnen und auch von druidischen Frauen. Allerdings ist die Rolle der Frauen bei den Kelten nicht eindeutig – als Ehefrauen waren sie wohl ihren Männern untertan, als Ledige oder Verwitwete waren sie in manchen Stämmen, die Normen sind hier anscheinend sehr verschieden, frei von Vormundschaft – über ihr Vermögen aber verfügten sie in der Regel überall selbst, auch wurde die Ehe nicht als lebenslanges Bündnis verstanden, sondern war unter bestimmten Bedingungen von beiden Partnern aus auflösbar. Es bestanden ebenso arrangierte Ehen wie es auch Liebesheiraten gegeben haben mag, jedenfalls ist der Kasus in den inselkeltischen Epen nicht unbekannt. Interessant ist, dass die Vergewaltigung einer Frau wie eine vollzogene Ehe galt, der Vergewaltiger also zur Hochzeitsgabe verpflichtet wurde – und die bemaß sich nach dem sozialen Status der Vergewaltigten.
Wir stehen aber hier wie auch in anderer Beziehung vor einer Gesellschaft, einer Kultur, die mitten in gewaltigen Umwälzungen begriffen war, als ihr auf dem Kontinent durch die Römer das Leben ausgetreten wurde. Das betrifft auch ihre religiösen Vorstellungen. Sie gelangten nicht weiter als bis zur Formenwelt einer typischen Naturreligion, Menschenopfer eingeschlossen. Es ist, soweit wir heute erkennen können, ein Fragment, mit dem wir es zu tun haben. Und wie immer, wenn wir es mit solchen kulturellen Fragmenten zu tun bekommen, schießen die Spekulationen ins Kraut und mit den Spekulationen die jeweiligen konkreten Wünsche und Befindlichkeiten derer, die da spekulieren. Diese sind es, die uns ein Neukeltentum geschenkt haben indem sie eigene Sehnsüchte auf dieses Fragment projizierten.
Wie nun ist das Neukeltentum entstanden? Es entstand auf dem Boden angelsächsischen Nationalstolzes und in betonter Antithese zu einer unter dem Mehltau victorianischen Restauratismus erstarrten Christlichkeit hochkirchlicher Prägung. Von dorther wurde es zu einem Ausdruck religiöser Opposition – auch durchaus mit christlichem Einschlag. Nur mit der originalen keltischen Kultur hat es nichts mehr zu tun. Die heutigen neukeltischen Druiden begreifen sich durchaus als Antithese zu hochkirchlichen oder gar anglokatholischen Klerikern. Die Verehrung des Göttlichen in der Natur ist eine bewusste Opposition zur anglikanischen Kultpraxis nach hochkirchlichem Ritus, der den Kirchenbau zum Vollzug braucht. Die Transzendierung der Natur, die im Neukeltentum grundlegend ist, hat es in der keltischen Religion wahrscheinlich und nach allen Quellen niemals gegeben. Solche Oppositionsbewegungen wie das Neukeltentum hat es im vergangen und vorvergangenen Jahrhundert auch mit anderer Zielsetzung zum Beispiel mit betont okkult – magischer Orientierung gegeben, aber diese Richtung zielte von Anfang an auf eine alternative Massenbasis. der man auch eine schriftliche Grundlage geben wollte, daher wurden vor allem inselkeltische schriftliche Überbleibsel des Mittelalters gesucht und neu herausgegeben – teilweise sogar gefälscht, ich erinnere an Ossian. Man versuchte zu retten, was zu retten war und wo nichts mehr zu retten war, erfand man etwas, das die Lücke füllte – wie die Tracht eines modernen Druiden oder phantasievolle Gemeindegottesdienste in Stonehenge, das gar nicht keltisch ist, aber das wollte man gar nicht wirklich wissen – man will es bis heute nicht.
Eine ähnliche Entwicklung vollzog sich auch in den katholischen Gebieten Süddeutschlands und Österreichs sowie im ebenfalls ultramontanen Frankreich. wo das Neukeltentum ebenfalls Boden gewann und bis heute behauptet – ohne aber eine wirkliche Massenbasis zu gewinnen, dazu ist der ideologische Fundus zu versponnen und ungesichert. Das Neukeltentum hat sich daher dem großen Spektrum der esoterischen Religionsausübungen angeschlossen und dieses selbst durch zum Beispiel seinen Festkalender bereichert. Kaum ein Esoteriker weiß heute mit den Begriffen Beltane und Samhain nichts anzufangen; die Nacht von Beltane (dreißigster April zum ersten Mai) ist vielmehr ein Volksfest für Esoteriker geworden. Das ist alles sehr hübsch und auch stimmungsvoll – aber niemand soll denken, dass er um aller dieser Dinge willen, in die Fußstapfen der alten Kelten getreten wäre. Der Unterschied wird schon darin sichtbar, dass in den heutigen Walpurgisfeuern keine Menschen und Tiere mehr verbrannt werden, wie es die keltische Sitte forderte. Stattdessen handelt es sich nun, wie auch zu Imbolg (Johanni) um reine Freudenfeuer. Desgleichen hat es eine kultische Eheschließung wie sie manche keltokatholischen Kleriker anbieten, bei den Kelten nicht gegeben, die Ehe war ein reiner Rechtsakt ohne religiöse Grundlage und die kultische Großveranstaltung in Stonehenge, die jedes Jahr „abgefeiert“ wird, vergessen wir am besten gründlich. Kurzum, es ist keine wiederbelebte keltische Religion, die da gefeiert wird, sondern es ist ein neu erfundenes an Meinungen über Kelten angelehntes Treiben, das da stattfindet. Dass dieses Treiben manchen befriedigen mag, steht außer Frage, aber „keltisch“ ist es dennoch nicht. Es ist modern und hat auch schon eine leichte Patina angesetzt, da es sich um eine der ersten Erfindungen der esoterischen Religion handelt.
Ein Wort noch zum sogenannten keltischen Christentum. Ein solches hat es ebenfalls niemals gegeben. Wohl war der Name Jesus wie auch die christlichen Quellen bestätigen, auf der britischen Insel nicht unbekannt, als die römische Mission dort eintraf, aber die britannische Überlieferung unterschied sich gewaltig von der römischen. In der Folgezeit übernahmen die britannischen Jesusanhänger diese oder jene Übung aus dem römischen Bereich und begannen erst dann ein eigentlich „christliches“ Leben zu führen, das sie vordem nicht gekannt hatten. So kann also von einem alten christlichen Keltentum nicht die Rede sein. Wenn sich jemals etwas in der Kultur der (insularen) Kelten auf Jesus bezogen hat, so war dies mit Sicherheit niemals christlich.
Den Neukelten und anderen Neuheiden ins Stammbuch: bekennt euch als das, was ihr seid – Neureligionen des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts unserer Zeitrechnung , die ihre geistige (für unsern Rolf: gespenstische) Heimat im weiten Feld der modernen Esoterik gefunden haben. Verwirrt die Menschen nicht mit Anmaßung. Ihr seid nicht uralt, ihr seid noch nicht einmal alt. Wenn ihr euch dazu bekennt, werdet ihr vielleicht ein bisschen weniger Aussicht auf großen Anhang haben – aber den habt ihr doch ohnehin nicht und eine durch Wahrhaftigkeit gewonnene Anhängerschaft ist doch sehr viel mehr wert als eine, die nur durch Vorspiegelungen gewonnen werden konnte. Euch ist ja an Anhängern gelegen – uns hingegen nicht, wir schenken frei und jedermann.