Dieses Thema habe ich nun diskursiv schon fast zu Tode gequält, aber immer noch scheint mir, dass viele den Unterschied nicht begriffen haben. Erst neulich begegnete mir die Gleichsetzung der Begriffe wieder in der Wikipedia und so geistert sie nicht nur durch die Weiten des Internet, sondern gehört in dieser Weise auch zum Grundbestand Vieler, die glauben, über Gnosis Bescheid zu wissen.
Gnosis meint das lebendige Ringen um Selbsterkenntnis, also um Erkenntnis darüber, was ein Selbst ist, woher es kommt, wohin es geht und was es im Ganzen des Seins überhaupt soll. Gnostizismus hingegen meint die Menge der mal mehr religiösen, mal mehr okkulten Gedankengebäude, die seit den Tagen der Antike bis auf unsere Gegenwart in der Annahme verfertigt worden sind, Gnosis zu repräsentieren. Sie tun es sämtlich nicht, vielmehr sind es hilflose Bemühungen, längst verstaubten oder pathologisch obskuren Ideen ein längst verlorenes oder ungesundes Leben einzuhauchen.
Gnosis gibt es, wie bewiesen wurde, seit den Tagen des Alten Ägypten, Gnostizismus seit frühestens dem zweiten Jahrhundert unserer Zeitrechnung. Gnosis ist in ihrem Wesen durch und durch areligiös, während Gnostizismus seit der Antike Anleihen bei allen Religionen der Welt gemacht hat und noch macht. So kann Gnostizismus in allen seinen Variationen als eine Religion aus Religionen angesprochen werden, jedoch nicht als synkretistische Religion, denn Gnostizismus hat als Religion einen durchaus exklusiven Inhalt, der sich mit keiner der Religionen, denen der Gnostizismus etwas zum eigenen Gebrauch entnahm, deckt. Diese Religion Gnostizismus sieht sich als die „Wissenschaft vom Göttlichen“, dem sie mit allen Mitteln beizukommen sucht, wobei sie Mensch und Gott als etwas zwar Verwandtes, aber durchaus voneinander Unterschiedene betrachtet und so das ganze Instrumentarium des Religiösen für sich reklamiert. Der Gnostizist, betet, er befolgt Rituale, er kennt Sakramente, er hat ein magisches Verständnis von seinen Gottheiten, die er mit Zauberformeln gefügig zu machen strebt, deren Existenz er aber anerkennt – in dieser Beziehung ist er Henotheist. Gerade hierdurch beweist er aber, dass sein Gnostizismus mit Gnosis nichts, aber auch gar nichts gemein hat.
Historisch ist das Christentum die einige überlebende gnostizistische Religion, denn sie hat eine Vielzahl gnostizistischer „Versatzstücke“ in ihre Glaubensvorstellungen aufgenommen, andererseits aber die Gnosis vehement bekämpft. Warum es das tat, ist leicht nachzuvollziehen, wenn man den areligiösen Charakter der Gnosis kennt. Wer Gnosis treibt, ist dem Christentum und damit dem Gnostizismus verloren. Er erkennt keine höhere Instanz mehr an, die sein Schicksal lenkt, er erkennt keine Sünde mehr an – außer der einen, sich gegen den Geist der Gnosis zu wenden, ein so verrücktes Paradoxon, dass es kein Gnostiker jemals tun wird – er erkennt keinen „Vermittler“ und keinerlei wie auch immer magische Verrichtungen mehr an, die ihn einem „Göttlichen“ näher bringen wollen. Da das Christentum all das aber praktizierte, ist es deutlich, dass es die Gnosis bekämpfen musste, wollte es selbst am Leben bleiben. Die Gnosis ihrerseits, die mit ihrem äußeren Informationsangebot längst zur beherrschenden Philosophie im römischen Reich aufgestiegen war und unter den verschiedensten Bezeichnungen propagiert wurde: Stoa, Neuplatonismus waren die beliebtesten, ließ sich nicht bitten und erklärte die neue Religion als staatsfeindlich in die Acht. Dabei kam ihr deren Nähe zum Judentum sehr gelegen, zeichneten doch Juden für zwei der größten Aufstände verantwortlich, die das Imperium jemals erlebt hatte. Die hilf- und verständnislosen Anleihen, welche das Christentum bei der Gnosis machte, quittierten sie hingegen mit Hohn und Spott, man denke nur an die „Schwesternreligion“ im Philippuskonspekt, das sich insonderheit mit den Denkweisen des frühen Kirchenchristentums und seinen – ersten – Dogmen auseinandersetzt. In großem Rahmen wurde diese Auseinandersetzung hingegen nie geführt, sie blieb auf Einzelfälle beschränkt. In großem Rahmen wurde die neue Religion kurz und bündig verboten. Anders das Christentum, das sich ständig dieses übermächtigen Gegners erwehren musste, der, mit der Macht im Bunde, es an allen Ecken und Enden bedrängte. Daher polemisiert die Gnosis nur selten gegen die Christen, das frühe Christentum aber fortwährend gegen die Gnosis, während es, wie schon gesagt, auf der anderen Seite gnostische Versatzstücke durch die Hintertür in die christliche Religion hinein holte, um wenigstens einen Anschein von Reputation zu erwecken.
Als die Gnosis ging – sie ging nie wirklich, aber sie verkroch sich zuweilen sehr tief – blieb der Gnostizismus übrig, jener Mischmasch aus Erlösungsreligion und spekulativem Okkultismus, und trieb weitere Blüten. Vor allem im Osten des Reiches blieb er lebendig und so kam es, dass ausgerechnet Glaubensflüchtlinge byzantinischer Herkunft ihn im zwölften Jahrhundert unserer Zeitrechnung nach Westeuropa brachten und mit ihm, der eben als Mischmasch äußerst aggressiv war, das bis dahin friedliche Nebeneinander von Gnosis auf der einen und Religion auf der andern Seite zerstörten. Auf einmal gab es eine Konkurrenzreligion, gegen die das Christentum selbstverständlich einschreiten musste. Binnen nicht einmal eines halben Jahrhunderts wurde sie niedergeworfen, aber mit ihr wurde leider auch eine bis dahin über ein Jahrtausend ungestört verlaufene Tradition der Gnosis zerschlagen. Einige Spolien in den Inquisitionsakten machen staunen und durch ihren Wortlaut glaubhaft, dass hier echte Gnosis betrieben worden war. Aber sie wurde nur noch unter anderem betrieben und so sind die Akten voller gnostizistischer Dogmen, so dass der Eindruck einer „Gegenkirche“ als homogener Block entsteht. Wir können annehmen, dass zumeist Gnostizisten auf den Scheiterhaufen landeten, denn Gnostiker, die ja aus ihrer Überzeugung keinen Marktplatz machen, werden sich zur gleichen Zeit zuhauf über ganz Europa verstreut haben – jedenfalls sind Spuren echter Gnosis bis nach Friesland und Skandinavien hin feststellbar, aber auch in Böhmen und Ungarn präsent und was sehr lustig ist, oft waren Angehörige katholischer Orden ihre Multiplikatoren.
Man kann davon ausgehen, dass die Gnostizisten stets die Mehrheit dessen repräsentiert haben, was von der Kirche als Gnosis bezeichnet wurde und man sieht auch, dass sie sich nach 395 von allem zu verabschieden versuchte, was sie zuvor an Gnostizismus aufgenommen hatte, denn es war nun nicht mehr notwendig. Stattdessen wurde, vor allem in der Ost- aber auch in der Westkirche, nun eine naive Theologie betrieben, deren Dogmen sich gegenseitig stützten. Dabei verfuhr die östliche Kirche mehr naiv – spiritualistisch, die westliche mehr naiv – rationalistisch, aber naiv verfuhren beide, denn nun gab es nichts mehr, was irgendwelchen Scharfsinn erforderte: die Kirche herrschte ja nun unangefochten. Wie hat sie das gemacht? Nun, sicher nicht indem ihr Gott ein Wunder tat, sondern indem einer der Söhne Konstantins des Großen die gesamte politische Elite des Römischen Reiches, sofern selbige nicht christlich zu machen war, in einem Massaker ausrottete. Ihrer Häupter beraubt mussten die „Heiden“ sich nun unter Strafandrohungen dem Regime fügen. Auf dem Land hat das antike Heidentum versteckt noch Jahrhundert fortbestanden und es erhielt dann durch die einsickernden heidnischen Völker noch weitere Nahrung – nicht ohne triftigen Grund sah sich das Christentum genötigt, so viele Bräuche in die Volksreligion aufzunehmen und dort zu tolerieren. Desgleichen war die „heidnische“ Philosophie fortan verpönt, die Akademien wurden geschlossen und damit den Lehrern der Gnosis das Instrumentarium entzogen – sie wanderten meist ostwärts aus. In Gallien erhielten sich gedeckt durch den rationalistischen Manichäismus des Westens, der immer echte Gnosis betrieben hatte, einige kleinere Schulen, im Osten zogen sich die Restbestände gnostizistischer Gemeinden in schwer zugängliche Gebiete zurück oder wanderten vorzugsweise nach Arabien aus, in dessen Wüstengebieten sie nicht mehr aufzufinden waren. Da sie aber weiter bestanden, produzierten sie auch weiterhin Literaturen und bewahrten ältere Literaturen auf, sodass die Möglichkeit bestand, solche unter glücklichen Umständen wieder zu finden.
Im neunzehnten Jahrhundert unserer Zeitrechnung bestanden solch glückliche Umstände. Die Theologie wurde von den Philologen und Philosophen angegriffen, weil sie keine über das Mittelalter hinausgehende Quellen besaß, man bestritt den antiken Charakter des Neuen Testaments und den der Bibel überhaupt. Es erwies sich, dass wenigstens darin die Christen die Wahrheit sprachen und dass auch die Juden den Nachweis ihrer Schriften über das Mittelalter hinaus erbringen konnten, aber in der ganzen philologischen Fund- und Forschungsarbeit erschienen nun auch die ersten gnostizistischen Schriften wieder vor den Augen der Theologen und nicht nur vor ihren Augen, sondern auch ausgemachte Okkultisten machten sich darüber her, weil alles so schön bunt und geheimnisvoll war. Aber – es war Religion, was da erschien, darüber waren sich alle Beteiligten einig. Sie sind es immer noch. Und – sie haben meistenteils auch recht. Alle die dicken Bücher, die seither über Gnosis geschrieben sein wollen, sind über die gnostizistische Religion geschrieben worden, alle Kongresse, die seither darüber veranstaltet wurden, wurden über gnostizistische Religionen der Antike und des Mittelalters veranstaltet, alle die kleinen und kleinsten Gemeinschaften, die sich seither gründeten, tragen gnostizistischen Charakter und sind auf ihre skurrile Weise in die eine oder andere Richtung tief religiös. Sie alle suchen Gott, ob sie ihn nun im Christus- oder im Satanskostüm suchen. Gnosis steht dabei und lacht sich ins Fäustchen. Sie alle sind nicht ernst zu nehmen, aber sie vor allem haben das Bild geformt, das heute jeder von Gnosis zu haben meint.
Denn – über Gnosis kann man keine Bücher schreiben….man kann sie nur realisieren.