oder: wie man den Feiertag als Feiertag feiert
Ich weiß nicht, ob jemand von euch weiß, was ein englischer Sonntag ist. Er ist das Urbild ritualisierter Langeweile. Nach dem Frühstück geht es in die Kirche. Nach dem Kirchgang wird in aller Eile ein frugales Mittagessen serviert und dann – ist bis zur Teatime erst mal Schlafenszeit für die, die schlafen können und für die andern gilt: Flüsterzeit. Nach der Teatime (Tee und Gebäck) ist Zeit für Spaziergänge und nach den Spaziergängen gibt es das Roastbeef, das schon den halben Tag über samt Zutaten im Ofen schmort. Die Mahlzeit zieht sich hin und danach ist der Mensch so satt und voll, dass er nur noch ins Bett fallen kann – die Hausfrau allerdings erst nachdem sie den umfänglichen Abwasch beseitigt hat, falls sie diese nicht auf Montag in der Frühe verschieben oder an die Spülmaschine delegieren kann.
Aber – der englische Sonntag hat auch eine Kehrseite: die Läden sind offen, zwar nicht zur Kirchgangszeit, aber gleich danach öffnet alles, was öffnen kann. Daher ist in den Großstädten auch am Sonntag alles auf den Beinen, was irgend noch einen Konsumwunsch und Geld hat um es dafür auszugeben. Es finden Rennen und diverse andere Sportveranstaltungen statt und wer will, amüsiert sich wahrhaft königlich – falls er nicht in einer Kleinstadt oder auf dem Dorfe lebt, denn dort wird sehr genau hingesehen, wer es mit der Sonntagsruhe nicht so genau nimmt. Wer gar Sonntags in den Pub geht, ist ein Säufer… aber der Pub hat geöffnet.
Man schmähe mir aber die Briten nicht; auf diese Weise haben sie erreicht, was sie unter den gegebenen Umständen nur erreichen konnten, nämlich das Ruhebedürfnis der Einen mit der Kommerzialität der Anderen und Beides mit der christlichen Religion überein zu bringen. Übrigens: der deutsche Sonntag ist noch öder, denn die Geschäfte sind zumeist und großenteils geschlossen und auch die Restaurants haben Sonntags gern ihren wöchentlichen Ruhetag – Sonntag und Montag sind beliebte Schließtage. Dafür gibt es Samstags meist bis in den Sonntagmorgen keine Ruhe, weder in den Lokalen, noch auf den Straßen, auch Parks und Wälder sind erfüllt vom mehr oder weniger penetranten Lärm feuchtfröhlichen Partylebens unter freien Himmel – wenigstens von Mai bis September.
All das aber wird übertroffen durch die Situation in Israel. Wohlgemerkt, ich meine das moderne Israel, nicht die antike Nation. Da geht nämlich am Sabbat gar nichts. Busse und Bahnen bleiben in den Depots, es verkehren keine Taxis und wenn, dann ist der Fahrer kein Jude und hat eine Sonderlizenz, Flugzeuge bleiben am Boden und nicht einmal eine Imbissbude hat am Sabbat geöffnet – neuerdings hört man von einigen Touristenlokalen, aber dort arbeiten dann ebenfalls keine Juden, dasselbe gilt von den Hotels – nur die Krankenhäuser werden betrieben, denn des Menschen Gesundheit geht dem Sabbat vor und die Polizei und Feuerwehr sind gleichfalls in Bereitschaft, denn auch die Verhütung von Katastrophen ist mit der Sabbatruhe vereinbar. Ehe der Sabbat beginnt, wandert die Uhr in die Schublade und das Telefon wird aus der Dose gezogen, das Handy ausgeschaltet. Es ist Feiertag und man meint es ernst. Nun, sicher meinen es nicht alle Israelis gleichermaßen ernst, aber Israel ist ein jüdischer Staat und das bedeutet: der Sabbat ist nach uralter Tradition heilig.
Dabei sind wöchentlich wiederkehrende Feiertage eigentlich ein Luxus. Die antike Welt, außerhalb Israels kannte dergleichen nicht. Stattdessen gab es eine Unmenge von Festtagen, die bunt durch das Jahr verteilt wurden und wer konnte, hielt diese Tage arbeitsfrei, es war aber keine Pflicht. Wer arbeiten musste, der arbeitete und ein antiker Arbeitstag konnte gut und gern seine zwölf Stunden haben, allerdings: diese zwölf Stunden wurden nicht im Akkord „heruntergeschrubbt“, sondern es war üblich, kürzere oder auch längere Pausen einzulegen. Hintereinander weg arbeiteten nur die Badesklaven in den Thermen[1], die Bergarbeiter- und die Feldsklaven und – die Strafgefangenen. Auch die Soldaten exerzierten nicht den ganzen Tag. Andererseits hatten die Frauen und die Sklaven auch an „freien“ Tagen genug zu tun, denn der Haushalt musste ja dennoch besorgt werden. Sie hatten sogar mehr zu tun, denn Feiertage waren oft mit Besuchen und Gegenbesuchen verbunden. Die Juden allerdings arbeiteten an diesem einen Tag in der Woche wirklich und wahrhaftig überhaupt nicht, weder sie selbst noch ein Sklave, noch ein Fremder, denn der Sabbat galt für alle. Aus diesem Grunde waren jüdische Sklaven zum Beispiel im alten Rom sehr unbeliebt, denn sie waren am Sabbat durch nichts zur Arbeit zu veranlassen. Man konnte sie dafür strafen, wenn man wollte, aber wer schädigte schon gern das eigene Besitztum? Ansonsten galten sie ja als vernünftig, arbeitsam und zuverlässig und vor allem: sie waren ehrlicher als andere, arbeiteten weniger in die eigene Tasche.
Um die Zeitenwende entstand aus der Mitte der jüdischen Religion eine andere, die sich anschickte, erfolgreich mit ihr zu konkurrieren. Der Grund für ihren Erfolg war, dass sie es denen, die sich ohnehin für das Judentum interessierten, eine bequemere Variante anbot: Man musste sich nicht mehr beschneiden lassen, auch die Ritualgebote musste man nicht halten, die Schriften wurden in Griechisch gelesen, man musste kein Hebräisch lernen, alles was man tun musste, war den einen Gott der Juden bekennen und seinen Sohn, den Messias. Die Paulusbriefe überliefern eines der frühesten Taufbekenntnisse, denn mit der Taufe, also mit der rituellen Waschung, bisher der Übertrittsritus für Frauen zum Judentum, war der Einzug in die christliche Religion vollzogen, mehr war nicht nötig. Zunächst hielten auch die Christen den Sabbat – aber nachdem die Synode von Jamnia die Christen aus der Synagogengemeinschaft hinausgeworfen hatte, sahen sie sich nach einem eigenen „Sabbat“ um und fanden den ersten Tag nach dem Sabbat als den Tag an dem ihr Messias angeblich von den Toten auferstanden war. An diesem Tag hielten sie seitdem ihre Hauptversammlung ab, was aber Veranstaltungen zu anderen Zeiten nicht verhinderte.
Der Zeitpunkt dieser Versammlungen war der Abend des entsprechenden Tages, seltener der Abend nach dem Sabbat, aber auch dies war möglich, das römische Messbuch bewahrt die Spur solcher Termine noch als „missa in nocte“ auf. Zu diesen Versammlungen kam man gewöhnlich nach getaner Arbeit und eventuell noch einem Besuch in den Thermen, denn körperliche Sauberkeit war den Menschen der Antike ein Bedürfnis und das Christentum eine Religion der Städte, nicht des flachen Landes. Man kam satt (gegessen wurde neben der Arbeit) und man war selten nüchtern, denn Wein und Bier waren verbreitete Durstlöscher. Wenn man in etwa erfahren will, wie Christen zu ihren Zusammenkünften kamen, dann lese man, was Paulus über die Zustände in Korinth schreibt, in anderen größeren und kleineren Städten wird es ähnlich gewesen sein. Es gab auch keinen festen Beginn für die Feier, sondern man trudelte eben so ein während die Veranstaltung bereits lief. Daher begann sie auch nicht mit dem rituellen Teil, sondern mit einem geselligen Beisammensein, das durch einen Vortrag mit einem abschließenden Segensgebet vom rituellen Teil geschieden wurde. Vor dem rituellen eigentlichen Mysterienmahl hatten alle Ungetauften die Örtlichkeit zu verlassen. Vom Mysterienmahl aber gingen die dazu Berechtigten nach Haus und in ihre Betten… es war ohnehin meist spät geworden.
Wann nun wurde der Sonntag zum arbeitsfreien Tag? Während man allgemein annimmt, dass er durch einen Erlass Konstantins des Großen 321 unserer Zeitrechnung eingeführt wurde, wird eine rigorose Sonntagsruhe wohl erst unter Theodosius I eingeführt worden sein, denn erst dieser erklärte das Christentum und seine Sitten zur ausschließlichen Religion im Reich mit entsprechend monopolisierten Mores. Vordem war es den Christen aber bereits erlaubt, den Sonntag als den angestammten periodischen Feiertag arbeitsfrei und vor allem gerichtsfrei zu halten – sie teilten sich dieses Privileg mit den Anhängern des Mithras, die vor allem unter den Soldaten zu finden waren. Während die Freistellung von der Arbeit nur für die Genannten galt, galt die Gerichtsfreistellung auch für Richter und Anwälte, die, wiewohl selbst „Heiden“, gleichwohl doch Prozesse gegen Christen und im Auftrag von solchen zu führen hatten. Erst unter Theodosius aber hatte sich jedermann nach den Mores der Christen zu verhalten, weil es legale Alternativen zu diesen nicht mehr gab. Seit dieser Zeit aber gehört der arbeitsfreie Sonntag nicht nur zur christlichen, sondern zur europäischen und dann später im Zuge der Kolonisierung, zur globalen Kultur.
Mit dem jüdischen Sabbat hat der christliche Sonntag nur zwei Merkmale gemeinsam: eines ist die Freiheit vom Zwang zur Lohnarbeit, das zweite ist die besonders festliche gottesdienstliche Veranstaltung, durch deren eine oder mehrere der Sonntag, der dies solis, aus dem Alltag heraus gehoben ist. Freiwillige Betätigung ist hingegen auch am Sonntag gestattet, darin unterscheidet er sich vom Sabbat, der nur da Ausnahmen macht, wo es um Menschenleben und ihre Bewahrung geht. Zur freiwilligen Betätigung gehört auch alles, was geeignet ist, dem Sonntag seine besondere, festliche Note zu geben, die nur durch den Charakter der christlichen Hochfeste noch weiter zu steigern ist, falls diese denn auf einen Sonntag fallen, was nicht immer der Fall ist. Fallen dieselben auf einen Wochentag, so nimmt dieser Wochentag den Charakter eines Sonntags an. Der jüdische Festtag aber, der nicht auf einen Sabbat fällt, hat von Anfang an einen eigenen Charakter, in den der Sabbat nur eingebettet ist, falls die vorgeschriebene Festzeit einen solchen einschließt. Er ist also nicht von vornherein dem Sabbat gleichgestellt, es dürfen an ihm Verrichtungen getätigt werden, die der Ordnung des Tages entsprechen, so die Vorbereitung eines Seder zu Pessach oder das Backen des traditionellen Gebäcks zu Rosh Haschana und der Bau und die Bewirtschaftung der Laubhütte zu Sukkot, welches unmittelbar an die Hohen Feiertage anschließt.
Sicher hat der theologisch spekulative Aufwand, der dann später betrieben wurde, um den christlichen Sonntag an den jüdischen Sabbat wieder anzugleichen mit dazu beigetragen, dass auch Christen damit begannen, ihren Sonntag als eine Art Sabbat für das Neue Israels anzusehen, als welches sich das Christentum immer mehr begriff – aber wenn zum Beispiel Jesus im Thomasevangelium sagt (und das Koptische übernimmt den fremden Begriff wortwörtlich) „wenn ihr den Sabbat nicht als Sabbat feiert…“ und so weiter, dann meint er den jüdischen Ruhetag mit all seinen Akzidenzien und nicht den – viel späteren – christlich/heidnischen Sonntag von dem damals außer dem Namen eines Tages im römischen Kalender nichts Besonderes bekannt war. Sicher, es gibt abschwächende Übersetzungen dieser Forderung dergestalt, dass es um die Beobachtung des Feiertages als solchen gehen sollte, aber das ist hier nicht gemeint. Was hier gemeint ist, erschließt sich schnell, wenn man auf die Genesis als die Urdefinition des Sabbat zurück greift. Der Sabbat ist der Ruhetag Gottes – und das Innewerden der eigenen Göttlichkeit bringt genau diesen Sabbat hervor, auch an anderer bevorzugter Stelle spricht Jesus von der Ruhe, die der Mensch für seine Seele finden sollte – diese Ruhe ist eminent wichtig. Daher ist nicht irgendein Feiertag oder eine Feierstimmung gemeint, wenn Jesus davon spricht, den Sabbat als Sabbat zu halten, sondern er meint den Ruhetag Gottes als Ruhetag Gottes zu begehen und dabei des eigenen Gottseins inne zu werden. Denn anders denn als ein Gott, im Bewusstsein dessen, dass alles diese Ruhe mitvollziehen muss, kann man den Sabbat nicht in seinem eigentlichen Sinne begehen, anders bleibt er immer Verzicht auf… während dieser Sabbat Gottes die Herrschaft innehat und behält. Alle Feiertage des Menschen, einschließlich des jüdischen Sabbat, sind nur ein schwacher Abglanz dieser schöpferischen Ruhe, in der die Bewegung nicht zwanghaft zurückgehalten wird, sondern sich wiederum zwanglos aus der Ruhe ergibt. Das meint, was auch der Volksmund meint, wenn er behauptet: wo ich bin, ist oben – ich bin wie er, ja, ich BIN er. Der Mensch soll seinen Gang aufrichten, seinen Kopf erheben und im Beispiel der göttlichen Ruhe seine eigene finden und in dem Gott, den Jesus seinen Hörern noch als Vorbild bietet – er spricht zu religiösen Juden – den artgleichen Kameraden anstelle des überwältigenden Himmelskönigs erkennen. Das bedeutet Jesus dann: den Vater erkennen. Wir sollen erkennen, dass wir selbst die Vorstellung sind, die wir uns von alledem machen – oder eben auch nicht, denn der jüdische Gott ist nicht lernfähig, der Mensch aber ist es und mit ihm auch seine Göttlichkeit als die andere Seite seiner Existenz.
So war das also gemeint, mit dem Sabbat – nur hat man sich durch zwei Jahrtausende an alles Mögliche gehalten, nur nicht daran. Man hat versucht, „Gottes Willen“ im Wechsel des Wochenfeiertages zu erkunden, hat eschatologische Deutungen vom „Vorbild des Messiasreiches“ hinein interpretiert, nur auf das Einfachste ist man nie gekommen. Vielleicht wollte man es auch nicht… wer weiß. Und immer wieder Sonntags… kommt dem Christen der Argwohn, dass er es vielleicht doch nicht richtig macht, wenn die Langeweile eines englischen (oder auch deutschen) Dorfsonntags ihn zu überwältigen droht. Da muss doch noch etwas Anderes sein – und, schwupps, ist er in der Stadt und im Shopping – Center wo Bewegung ist, weil er der Ruhe ihren Wert nicht abgewann. Weil er „ich darf es nicht anders haben“ sagte, anstatt „ich will es so wie es ist“ und: „meine Ruhe sei die Ruhe eines Gottes“ (es ist mir egal, wie der heißt…). Nicht der Besuch der Synagoge oder der Messe oder der Predigt ist wichtig, eher sind sie gefährlich, denn sie entfremden uns hin zu einem Ding, das an und für sich nicht existiert, sondern das freie Genießen nach getaner Arbeit und vor dem nächsten Werk, das zu verrichten sein wird. Nicht die äußere Feierlichkeit ist wichtig, sondern die innere Feier, die durch die äußere Ruhe nur verdeutlicht wird – weswegen ich auch für die Beibehaltung von Feiertagen wie dem Sonntag als immerwährendes Angebot bin, zu dieser königlichen Ruhe zu finden und sich selbst in ihr wiederzufinden als den, von dem sie ausgeht und der sie mit den Anderen teilt. Und im Übrigen – nun, Erkenntnis ist keine Verpflichtung zum Trübsinn, vielleicht sollten wir auch das immer im Auge und im Hinterkopf behalten…
[1] Die Thermen waren feiertags selbstverständlich geöffnet.